Der Mythos vom unberührten Amazonaswald
Ureinwohner hinterließen in präkolumbianischer Zeit Spuren im Regenwald, indem sie Baumarten domestizierten
Bäume, die von präkolumbianischen Völkern domestiziert wurden, spielen bis heute eine wichtige Rolle in den Wäldern des Amazonas-Beckens. Die Vorstellung, dass die ausgedehnten Regenwälder vor der Ankunft der Spanier in Südamerika unberührt von menschlichem Einfluss waren, hat damit einen Dämpfer erhalten. Das berichtet ein internationales Team, zu dem auch Florian Wittmann vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz gehörte, in der Zeitschrift Science.
Bereits vor etwa 8000 Jahren begannen die Völker Amazoniens, Pflanzen wie den Paranussbaum, den Kakaobaum oder die Kohlpalme zu domestizieren. Allerdings war bislang unklar, in welchem Umfang die Ureinwohner den Wald tatsächlich veränderten, etwa indem sie manche Bäume gezielt anbauten oder deren Samen über große Entfernungen verbreiteten. Ein internationales Team um Carolina Levis vom Brasilianischen Nationalinstitut für Amazonasforschung (INPA) untersuchte daher die Häufigkeit von 85 Baumarten, die von den präkolumbianischen Völkern etwa als Nahrungsquelle oder Baumaterial genutzt worden waren. Dazu analysierten die Forscher Daten des „Amazon Tree Diversity Network“ (ATDN). In dieser Datenbank ist der Bestand von Baumarten auf gut tausend Untersuchungsflächen im Einzugsgebiet des Amazonas gespeichert.
Mehr domestizierte Arten als zu erwarten sind weit verbreitet
Das Team stellte fest, dass 20 der 85 domestizierten Arten im gesamten Amazonasbecken weit verbreitet sind und große Teile des Waldes dominieren. Eine 2013 veröffentlichte Studie, an der Florian Wittmann ebenfalls beteiligt war, identifizierte insgesamt 4962 verschiedene Baumarten auf den Untersuchungsflächen des ATDN. Davon waren lediglich 227 Arten weit verbreitet. Während also nur fünf Prozent aller Baumarten im Amazonasbecken häufig vorkommen, sind dort von den domestizierten Arten etwa 24 Prozent oft anzutreffen. Der Anteil der weit verbreiteten domestizierten Arten war somit fünfmal höher als es zu erwarten gewesen wäre, wenn der Mensch nicht eingegriffen hätte.
„Die Studie liefert für viele Baumarten tatsächlich Aufschluss über deren Verbreitung durch den Menschen, etwa bei Bertholletia, der Paranuss“, kommentiert Florian Wittmann, der bis 2016 für das Max-Planck-Institut für Chemie in Manaus in Brasilien forschte und seit 2016 am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) tätig ist, das Ergebnis. Genetische Studien belegen, dass es bei Paranussbäumen im gesamten Amazonasgebiet nur geringe genetische Unterschiede gibt. Da diese Unterschiede bei Arten, die sich auf natürliche Weise im Regenwald verteilt haben, größer sind, sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Art sich mit Hilfe des Menschen ausgebreitet hat, sehr hoch. Bei anderen Bäumen, etwa dem Kakaobaum, seien indessen noch weitere Untersuchungen erforderlich, um die Interpretation zu stützen.
Menschen prägten den Amazonaswald bereits vor den Spaniern
Ein weiteres Ergebnis der Studie: In der Nähe von archäologischen Fundstellen nahm die Häufigkeit und Vielfalt der domestizierten Bäume noch einmal zu. Carolina Levis und Kollegen schließen daraus, dass die amerikanischen Ureinwohner dazu beitrugen, nützlichen Bäumen einen Vorteil zu verschaffen – und so die Ökosysteme veränderten. Die Forscher sehen ihr Ergebnis als Beleg dafür, dass menschliche Nutzung den Amazonas-Regenwald bereits vor der Ankunft der Spanier prägte. Das sieht auch Florian Wittmann so: „Wohl kaum ein Wald in Amazonien ist unberührt“, sagt der Experte für Auenökologie. „Schätzungen gehen davon aus, dass vor der europäischen Kolonisation gut zehn Millionen Menschen dort lebten.“
Wittmann arbeitet seit langem eng mit brasilianischen Forschern zusammen und betreut mehrere Untersuchungsflächen des „Amazon Tree Diversity Network“. Neun davon, die sich ungefähr 150 Kilometer nordöstlich der tief im Regenwald gelegenen brasilianischen Millionenstadt Manaus befinden, flossen in die aktuelle Studie ein. Diese jeweils einen Hektar großen Untersuchungsgebiete liegen in der Nähe des Forschungsobservatoriums ATTO (Amazon Tall Tower Observatory). Mit Hilfe dieses 325 Meter hohen Turms wollen deutsche und brasilianische Forscher vor allem Klimafragen untersuchen. „Es geht darum, welchen Einfluss der Regenwald auf das Klimageschehen hat, und wie umgekehrt die Atmosphäre den Regenwald beeinflusst“, berichtet Wittmann.
Eingriffe der Ureinwohner sind nicht vergleichbar mit heutiger Zerstörung
Er und seine Kollegen überwachen deshalb nicht nur die Atmosphäre, sondern auch den Wald minutiös: Sie haben auf ihren Untersuchungsflächen alle Bäume markiert, die jeweilige Art bestimmt sowie Durchmesser und Höhe der Gewächse ermittelt. Zudem haben sie Bodentyp, Nährstoffgehalt und weitere Umweltbedingungen untersucht, Wachstumsmodelle erstellt und die gesamte Biomasse auf den Versuchsfeldern errechnet.
Auch diese Waldstücke sind wohl nicht mehr im Urzustand. „Es gibt auf unseren Flächen zwar nur wenige Individuen der Arten, die in unserer Publikation als domestiziert beschrieben werden“, sagt Wittmann. Da sich ATTO aber in Flussnähe befinde, müsse davon ausgegangen werden, dass die umliegenden Wälder nicht menschenleer waren. Denn die indigenen Völker siedelten sich vor allem entlang der Flussläufe an.
Der Eingriff der Ureinwohner Amazoniens in präkolumbianischer Zeit sei allerdings in keiner Weise vergleichbar mit der Zerstörung des Regenwaldes in den vergangenen Jahrzehnten. „Die industrielle Nutzung hat bereits eine Million Quadratkilometer vernichtet“, sagt Florian Wittmann. Das entspricht der dreifachen Fläche Deutschlands und etwa 20 Prozent des gesamten amazonischen Regenwaldes. „Es ist dringend notwendig, die verbleibenden Flächen noch besser zu schützen“, resümiert der Forscher.
UK